Bundesamt für Kartographie und Geodäsie

Dreht sich die Erde zu schnell?TypNachricht

 

Datum 04.02.2021

Anfang Januar 2021 gab es in etlichen Zeitungen und Online-Portalen Meldungen, dass sich die Erde derzeit ungewöhnlich schnell drehe. Im Jahr 2020 rotierte die Erde an insgesamt 28 Tagen schneller als erwartet und 2020 sei der kürzeste Tag gemessen worden.

Die derzeitige Rotationsgeschwindigkeit der Erde ist zwar bemerkenswert und wird aus verschiedenen Gründen wirklich von einigen Forschern aufmerksam verfolgt, sie ist aber nicht wirklich ungewöhnlich. Das jetzige Maximum der Geschwindigkeit bezieht sich nur auf die Epoche der genauen Messungen seit der Verwendung von Atomuhren Anfang der 1960er Jahre. In den 1930er Jahren und besonders um 1870 war die Erde noch schneller. Je weiter man in der Zeit zurückgeht, umso rascher rotierte die Erde. Damals war es zwar nicht möglich, die Erddrehung direkt zu beobachten, weil die Erde selbst die genaueste verfügbare Uhr war. Schwankungen ihrer Drehgeschwindigkeit wurden erstmal 1935 mit den ersten Quarzuhren direkt gemessen. Man kann allerdings aus der Beobachtung der Mondbahn auf die Drehgeschwindigkeit der Erde schließen. Da Mond und Erde über die Gravitation verbunden sind, stehen die Bewegungen beider Himmelskörper in engem Zusammenhang. Der Mond bremst langfristig durch die von ihm verursachten Meeresgezeiten die Erddrehung ab, nimmt dabei aber den Drehimpuls der Erde auf und wird selbst schneller in seiner Bahn, wodurch er sich allmählich von der Erde entfernt.

Die Abbremsung der Erde über Ebbe und Flut, die sogenannte Gezeitenreibung, erfolgt allerdings nicht gleichmäßig. Die Gezeiten wirken zunächst nur auf den Erdmantel, während sich der Erdkern weiter mit der bisherigen Geschwindigkeit dreht. Da Kern und Mantel mechanisch und vor allem über starke Magnetfelder verbunden sind (die sogenannte Kern-Mantel-Kopplung), beschleunigt nach einiger Zeit der Kern den Mantel wieder, ehe ihn der Mond wiederum abbremst. Nach und nach wird auch der Kern abgebremst. Dieses Wechselspiel läuft mit mehreren Perioden in unterschiedlichen Amplituden ab. Das wird als dekadische Variation bezeichnet, weil die Perioden im Bereich von Jahrzehnten liegen.

In der Abbildung 1 sieht man die Änderungen der Länge der Tage von 1962 bis Ende 2020 aus Daten des International Earth Rotation und Reference Systems Service (IERS), Reihe EOP 14 C04 (https://www.iers.org/EOP). Gegeben werden die Abweichungen von 24 Stunden. Man sieht jährliche Schwankungen, die vor allem von jahreszeitlichen atmosphärischen Prozessen herrühren, aber auch langfristige Variationen aus dem Wechselspiel von Erdkern und Erdmantel. Die Veränderungen bewegen sich im Bereich von wenigen tausendstel Sekunden, also 0,000001 % der Länge eines Tages.

Am größten ist eine Schwankung, die alle 60 bis 80 Jahre auftritt. Sie führte dazu, dass um 1870 die Länge eines Tages um etwa 4 Millisekunden kürzer als 24 Stunden war, also noch deutlich kürzer als derzeit.

Dass ein Tag ziemlich genau 24 Stunden lang ist, liegt an der Definition der Sekunde. Deren Länge wurde gerade so gewählt, dass die traditionelle Einteilung des Tages in 24 Stunden auch wissenschaftlich-technisch exakt ist. Im Mittel gilt das allerdings nur für die Zeit um 1900. Geht man in der Zeit zurück, werden die Tage immer kürzer, in der Zukunft werden sie wegen der Abbremsung durch den Mond immer länger. Betrachtet man nur die mittleren Veränderungen über tausende von Jahren, sollten derzeit die Tage durchschnittlich 2 Millisekunden länger als 24 Stunden sein. Tatsächlich ist aber der Sonnentag 2020/21 im Mittel ziemlich genau 24 Stunden lang, weil der Erdkern in den letzten Jahren zu einer vorübergehenden Beschleunigung geführt hat, die der langfristigen Abbremsung durch den Mond entgegenwirkt. Der Sonnentag bezieht sich auf die Drehung der Erde in Bezug auf die Sonne, nach der sich das Leben richtet; er ist etwas länger als eine Drehung der Erde um ihre Achse, weil sich innerhalb eines Tages die Erde auch auf ihrer Bahn weiter bewegt.

Die Veränderungen der Länge des Sonnentages, auch wenn sie sich in der Größenordnung von Millisekunden bewegen, haben praktische Auswirkungen. Eigentlich geben Atomuhren den Takt aller anderen Uhren vor. Wegen der Abbremsung der Erde geht aber die gewohnte Sonnenzeit, die auf der Drehung der Erde beruht, gegenüber der gleichförmigen Atomzeit nach. Weil in den letzten Jahrzehnten die Tage im Schnitt länger als 24 Stunden waren, wurde die auf der Atomzeit beruhende Weltzeit (UTC), nach der wir leben, an die Sonnenzeit angepasst, indem zur Atomzeit mehrere Sekunden hinzugefügt wurden. Zurzeit beträgt der Unterschied zwischen Weltzeit und Atomzeit 37 Sekunden und wird langfristig weiter anwachsen. Die Anpassung erfolgt, indem am 30. Juni oder 31. Dezember die letzte Weltzeit-Minute des Tages 61 statt 60 Sekunden hat (in Mitteleuropa entspricht das 2 Uhr Sommerzeit am 1. Juli oder 1 Uhr am 1. Januar). Diese zusätzliche Sekunde wird als Schaltsekunde bezeichnet, in Anlehnung an den 29. Februar als Schalttag, der alle vier Jahre zusätzlich in den Kalender eingeschoben wird. Im Unterschied zum Schalttag wird die Schaltsekunde aber in sehr unregelmäßigen Abständen eingeführt, weil die Erde sich zwar ziemlich gleichförmig um die Sonne bewegt (wovon die Jahreslänge und damit der Kalender abhängen), sich aber sehr unregelmäßig dreht (wovon die einzelnen Tage abhängen). Wegen der vorübergehenden Beschleunigung des Erdmantels durch den Erdkern wurde seit Anfang 2016 keine Schaltsekunde gebraucht. Sollte die Beschleunigung weiter anhalten, könnte es sogar notwendig werden, von der Weltzeit eine Sekunde abzuziehen, was einer negativen Schaltsekunde entsprechen würde. Dann hätte die letzte Weltzeit-Minute eines bestimmten Tages nur 59 statt 60 Sekunden. Ob das tatsächlich in einigen Jahren notwendig sein sollte, lässt sich derzeit aber nicht verlässlich prognostizieren, ähnlich wie man nicht das Wetter für das kommende Jahr vorhersagen kann. Sicher ist: Langfristig wird der Mond die Erde weiter abbremsen, so dass wieder positive Schaltsekunden notwendig werden.

Die Daten über die Drehung der Erde werden vom Internationalen Dienst für Erdrotation und Referenzsysteme (International Earth Rotation and Reference Systems Service, IERS) ermittelt (https://www.iers.org). Das ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Forschergruppen etlicher Institutionen in verschiedenen Ländern. Dazu kommen tausende Beobachtungs­stationen, zahlreiche Analysezentren und Datendienste, die über die gesamte Erde verteilt sind, von Neuseeland bis Hawaii und von Island bis zur Antarktis. Die Beobachtungsstationen liefern Daten aus Beobachtungen künstlicher Satelliten, des Mondes und von Galaxienkernen, die mit Mikrowellen- und Laserstrahlen erfolgen. Analysezentren bestimmen aus diesen unterschiedlichen Beobachtungsdaten das aktuelle Rotationsverhalten der Erde und liefern diese Information an den IERS, der sie kombiniert und allen kostenfrei zur Verfügung stellt. An diesen Beobachtungen ist auch das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG) mit mehreren Beobachtungsstationen beteiligt. Am Geodätischen Observatorium Wettzell (GOW) im Bayerischen Wald sind mehrere höchstgenaue Instrumente konzentriert, weitere Instrumente sind über Deutschland verteilt. In Argentinien betreibt das BKG in Zusammenarbeit mit einer dortigen Institution eine Beobachtungsstation (das Argentinisch-Deutsche Geodätische Observatorium, AGGO) und in der Antarktis zusammen mit dem DLR ein Radioteleskop auf der German Antarctic Receiving Station (GARS O’Higgins, http://ivs.bkg.bund.de/vlbi/ohiggins/). Das BKG beteiligt sich auch an der Auswertung der Beobachtungen zur Bestimmung der Erdrotation und des globalen geodätischen Referenzrahmens sowie der Sammlung und Bereitstellung der Ergebnisse verschiedener internationaler Gruppen. Es betreibt zudem in Frankfurt am Main das Zentralbüro, das die Tätigkeit des IERS koordiniert, die Ergebnisse sammelt und für die Wissenschaft, die Wirtschaft und alle Interessierte zur freien Verfügung stellt. Der IERS ist auch zuständig für die Festlegung der Schaltsekunde, jeweils ein halbes Jahr im Voraus – längere Vorhersagen sind nicht möglich. Mitte 2021 wird es keine Schaltsekunde geben, vermutlich auch Ende des Jahres nicht.