Bundesamt für Kartographie und Geodäsie

Schwere messen zwischen Atlantik und Anden

Eine Reise durch Patagonien mit dem Absolutgravimeter

Mit einem leisen „rrrrrrrrr“ surrt die Vakuumpumpe los. Wenn in der Messkammer des Absolutgravimeters genügend Unterdruck erreicht ist, tippt Alexander Lothhammer auf die Enter-Taste seines Laptops. Nach zehn Sekunden erscheint das erste Messergebnis auf dem Bildschirm: 9.8098383826 m/s². Lothhammer und sein Kollege André Gebauer warten noch einige Einzelmessungen ab und nicken sich dann zufrieden zu. Das System läuft stabil und zuverlässig und wird in den nächsten beiden Tagen und Nächten einige tausend Werte der Schwerebeschleunigung bestimmen. Dabei ist der Vorgang immer gleich, ganz egal wo auf der Erde das Messgerät aufgebaut wird. Im Februar 2022 steht es auf der Estancia Julia in Argentinien, auf halber Strecke zwischen der Atlantikküste und dem Perito-Moreno-Gletscher im südlichen Patagonien. Die nächste Ortschaft, die den Namen verdient, ist achtzig Kilometer entfernt. Auf dem einsamen Landgut wohnt und arbeitet das Forscherteam in zwei kleinen Gebäuden, die ihre besten Jahre lange hinter sich haben. Lothhammer und Gebauer sind mit vier weiteren Kollegen von der Technischen Universität Dresden, dem Nationalen Argentinischen Wissenschaftsrat  CONICET und dem Argentinisch-Deutschen Geodätischen Observatorium AGGO unterwegs. Die nächsten drei Tage werden sie ohne Strom und fließend Wasser auskommen; sie haben zwar einen Stromgenerator im Gepäck, aber der liefert gerade mal genug Energie für das Messgerät.
„Empfindlich darf man da nicht sein“, schmunzelt Lothhammer, „in den Dörfern gibt es unzählige Straßenhunde. An einer Station war es so heiß, dass wir alle Türen des Hauses aufreißen mussten, um einen kühlenden Durchzug zu schaffen. Das hat auch einer der Hunde mitbekommen und ein Pfützchen am Zelt hinterlassen, das wir um das Gravimeter aufgebaut hatten. Das muss man dann eben sportlich nehmen, genauso wie die rustikale Umgebung hier.“  

Gebauer fügt hinzu: „Hier haben wir auch immer sechs Hunde, die uns auf Schritt und Tritt begleiten; und außerdem eine sehr neugierige, zutrauliche Kuh, die sich sehr für unser verdientes Abendessen im traumhaften Sonnenuntergang interessiert. Wahrscheinlich sucht sie nach etwas Schmackhaftem, denn jetzt, im argentinischen Sommer, ist es in dieser Gegend staubtrocken und das Gras eher braun als grün.“

Warum hebt sich die Erde?

Wenn sie nicht gerade in Argentinien unterwegs sind, arbeiten Lothhammer und Gebauer in der Abteilung Geodäsie des BKG. Mit Ihrem Team erforschen sie in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, was in Argentinien unter der Erde passiert, wenn das patagonische Inlandeis abschmilzt.
Die südpatagonischen Eisfelder sind nach der Antarktis und Grönland die drittgrößte zusammenhängende kontinentale Eismasse der Welt. Auch sie schmelzen als Folge der globalen Klimaerwärmung immer schneller. Wenn der Gletscher schmilzt und das Wasser abfließt, wird die Erdkruste an dieser Stelle entlastet. Sie ist ungefähr 70 Kilometer dick und bewegt sich in ihre Ausgangsform zurück wie ein Stück Schaumstoff, das man mit dem Finger eingedrückt hat. Ein Messpunkt an der Erdoberfläche bewegt sich so um etwa ein bis zwei Zentimeter pro Jahr vom Erdmittelpunkt weg. Unter der Erdkruste, im Erdmantel, wurde zähflüssige Magma zehntausende Jahre lang zur Seite weggepresst. Auch das Magma fließt wieder zurück und führt zu einer vertikalen Bewegung an der Oberfläche.
Und dann ist da noch die einmalige geologische Situation des Messgebietes: Vor der chilenischen Küste treffen zwei tektonische Kontinentalplatten aufeinander. Vor 45 Millionen Jahren haben die Anden begonnen, sich zum Gebirge aufzufalten, weil sich die Nazca-Platte unter die südamerikanische Platte schiebt. Dieser Prozess dauert bis heute an. Eisschmelze und Plattentektonik zusammen führen dazu, dass die Erde sich hier so schnell hebt wie sonst kaum irgendwo; bis zu fünf Zentimeter können es pro Jahr sein. Deshalb ist das Gebiet so interessant für die Forscher.
Die Hebungsraten hat das Team der TU Dresden mit Satellitenverfahren bestimmt. Jetzt messen Lothhammer, Gebauer und ihre Kollegen die Schwere, oder besser gesagt ihre Änderung. Das Zusammenspiel von Satellitenverfahren und Schweremessungen hilft, die Prozesse der Landhebungen und ihre Ursachen besser zu verstehen. Am Ende trägt es dazu bei abzuschätzen, wie sich die Klimaerwärmung auf die Eisbedeckung der Erde auswirkt. 

Präzisionsmessung im freien Fall

Das Absolutgravimeter vom Typ FG5 ist das präziseste transportable Absolut-Schweremessgerät, das es derzeit gibt. Sein Herzstück ist die 20 cm hohe Fallkammer. In der wird ein Hochvakuum erzeugt, damit der fallende Testkörper nicht vom Luftwiderstand gestört wird.

Der Klick auf die „Enter“-Taste startet eine ganze Messkaskade. Ein Prisma in der Größe eines Wasserflaschendeckels fällt durch den luftleeren Raum. Welche Strecke der Testkörper zurücklegt und wie lange er dafür braucht, ist Basis für die Ableitung der Schwerebeschleunigung. Ist der Testkörper nach einer fünftel Sekunde unten angekommen, wird er mit einem Transportband wieder nach oben befördert und ist kurz darauf bereit für den nächsten Freifallversuch. Etwa zweihundert Einzelmessungen werden zu einem Satz zusammengefasst, jeder Satz stündlich wiederholt. Da die Gezeiten die Messung beeinflussen, wird mindestens einen Gezeitenzyklus lang gemessen, besser noch zwei, in der Regel zwei Tage und Nächte.
Dank der Computersteuerung läuft die Schweremessung im Optimalfall weitgehend automatisch. Frei haben die Forscher in dieser Zeit aber keineswegs. Lothhammer erklärt: „Während die Absolutmessung läuft, nehmen wir in der Umgebung zusätzliche Werte mit einem handlichen Relativgravimeter auf. Außerdem machen wir Messungen zur Höhenbestimmung, denn wir brauchen eine exakte Höhenangabe für unseren Schwere-Messpunkt, am besten millimetergenau. Zusätzlich erfassen wir Umweltparameter wie den Luftdruck und die Temperatur, wenn wir am Wasser sind auch Pegelstände. Einen Teil der Daten werten wir in dieser Zeit auch gleich aus und übertragen sie auf unsere Server. Die endgültige Auswertung machen wir dann aber erst am Schreibtisch zu Hause, gemeinsam mit den Kollegen.“
Wenn die Messung abgeschlossen ist, verpacken Lothhammer und Gebauer das Absolutgravimeter samt Zubehör wieder in sieben Transportkisten. Vorsichtig lassen sie die Einzelteile in die Aussparungen im Schaumstoff sinken; die gesamte Ausrüstung ist einige Hunderttausend Euro wert. Dementsprechend vorsichtig schuckeln die Forscher ihren Transporter über die buckeligen Pisten Patagoniens zum nächsten Messpunkt. Acht Stationen fahren sie auf der sechswöchigen Reise ab und legen dabei neuntausend Kilometer zurück.

2023 werden sie wiederkommen und die Vakuumpumpe wieder surren lassen, denn am spannendsten sind die Veränderungen des Schwerewertes über einen längeren Zeitraum.

Mehr zum Projekt: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/426109121